Ihre Untätigkeit schürt die Flammen stündlich

Warum habt ihr nichts dagegen getan zwischen 1939 – 1945 und 1992 – heute?

Heute ist der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Er wurde 2005 von den Vereinten Nationen zu diesem bestimmt. Neun Jahre zuvor hat bereits der deutsche Bundespräsident Roman Herzog den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus eingeführt. Anlass ist immer der Tag, an dem die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz in Polen befreit hat. Der deutsche Gedenktag richtet sich aus gleichem Anlass an alle Opfer des Nationalsozialismus und der internationale Gedenktag konkreter an die Opfer des Holocaust, damit an die jüdischen Opfer. Denn Holocaust steht als Begriff für die Verfolgung und Vernichtung der Juden in Deutschland und Europa durch das NS-Regime. Dieser Text gilt beiden Gedenktagen.

Als Kind habe ich, wie viele andere, versucht zu begreifen, was zwischen 1939 und 1945 in Deutschland passiert ist. Bis heute werde ich immer ganz still, wenn Zeitzeugen aus dieser Zeit berichten. Ich versuche mich dann immer in die Zeit hineinzuversetzen und frage mich, ´wie hätte ich mich verhalten?`

Zeitzeugen, die ich bisher gehört habe, waren Nicht-Juden wie Juden. Die Juden haben durch verschiedene Wunder überlebt, die Nicht-Juden manchmal auch. Nicht-Juden, die Zeitzeugen waren, sagen oft im Zusammenhang mit dem Holocaust: „Das haben wir nicht gewusst!“ Ich verstehe, dass sie nicht gewusst haben, dass wehrlose Menschen aus einem Zug aussteigen, sich ausziehen müssen und in eine Gaskammer geführt werden, um vergast zu werden. Das, denke ich, konnte man nicht wissen – es war fern jeder Vorstellungskraft. Das konnte man sich, ohne andere Informationen zu haben, auch zwischen 1939 – 1945 nicht vorstellen. Aber das jüdische Mitbürger*innen verfolgt werden, konnte jeder wissen. Jeder, der am Leben in Deutschland zwischen 1939 – 1945 teilnahm, konnte das wissen. Denn die Verfolgung war überall und gegenwärtig.

„Wir haben nicht gewusst, dass Juden nicht mehr arbeiten durften, dass ihre Geschäfte demoliert wurden, dass sie auf offener Straße misshandelt wurden, dass sie entrechtet und enteignet wurden, dass ihre Gotteshäuser angezündet und geplündert wurden, dass sie ohne Urteil ins Gefängnis gesperrt oder verschleppt wurden, dass sie abgeholt, weggebracht und nicht mehr gesehen wurden…“, das stimmt nicht. Das wussten die Menschen in Deutschland und den besetzten Gebieten, es sei denn in ihrer Nähe gab es keine Juden, keine Zeitung und keine Menschen, die ihnen davon aus anderen Regionen hätten berichten können. Das muss aber eine verschwindend geringe Minderheit gewesen sein. Mein Fazit ist: Wer in Deutschland zwischen 1939 – 1945 lebte, wusste, dass Juden verfolgt wurden. Dann stellt sich unmittelbar die Frage: Warum habt ihr nichts dagegen getan? Oder offener gefragt: Was habt ihr getan?

Diese Frage ist unerhört gestellt von einem, der nicht zu der Zeit in Deutschland lebte. Denn keiner, ich zumindest nicht, kann sich vorstellen, wie das gewesen sein muss in dieser Zeit: totale Überwachung, totale Denunziationsmöglichkeit, totale Entrechtung aller Menschen auch der Nicht-Juden und natürlich Kriegszustand. Dennoch stellen manche diese Frage.

Atlas, die Bürde der Welt auf seinen Schultern.

Auch Greta Thunberg stellt Fragen an Zeitzeugen. Die schwedische Klimaaktivistin hat vor einigen Tagen in Davos gesprochen. Auf dem Weltwirtschaftsforum, WEF, in Davos treffen sich jährlich die wichtigsten Entscheider aus Wirtschaft, Politik und Finanzsystem. Kurzum: die, die etwas weltweit verändern könnten, wenn sie wollten. In ihrer Rede hat Greta Thunberg dann eine Frage gestellt, die sehr ähnlich klingt, wie die an Zeitzeugen von 1939 – 1945.

Greta fragte ganz konkret die deutlich älteren Manager, Politiker und Banker: „Ich frage mich, was Sie Ihren Kindern sagen werden, was der Grund für das Scheitern war und sie in einem Klimachaos zurücklässt, das Sie wissentlich über sie gebracht haben. Dass es so schlecht für die Wirtschaft schien, dass wir beschlossen, auf die Idee der Sicherung zukünftiger Lebensbedingungen zu verzichten, ohne es auch nur zu versuchen?“ Und dann schloss sie mit den Sätzen: „Unser Haus brennt immer noch. Ihre Untätigkeit schürt die Flammen stündlich. Und wir sagen Ihnen, Sie sollen so handeln, als ob Sie Ihre Kinder über alles andere lieben würden.“

In beiden Fällen sind Zeitzeugen aufgerufen, Stellung zu nehmen. „Was war der Grund für das Scheitern?“ Oder: „Warum habt ihr nichts dagegen getan?“ In beiden Fällen beklagen die Nachgeborenen eine Untätigkeit zwischen 1939 – 1945 oder zwischen 1992 – heute. Konkret: Einer Untätigkeit angesichts der Verfolgung von Mitbürgern und dem Ergebnis von sechs Millionen Ermordeten und einer Untätigkeit angesichts steigender Treibhausgasemissionen und dem Ergebnis tödlicher Umweltkatastrophen. In beiden Fällen sind die Dimensionen der unmittelbar tödlichen Folgen noch sehr unterschiedlich, auch die Handlungsmöglichkeiten sind nicht vergleichbar. Aber Untätigkeit trotz (besseren) Wissens steht jedes Mal als Frage im Raum.

Warum gerade 1992? Weil seit 1992 alle Staaten dieser Welt wissen, was steigende Treibhausgasemissionen für die Lebensbedingungen auf diesem Planeten bedeuten. Damals unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, UNFCCC. Dort steht geschrieben, was Treibhausgase bewirken und dass wir, alle Staaten der Welt und ihre Bürger, dagegen etwas tun müssen.

Die Regierungen und Staatschefs dieser Welt können seit 1992 nicht mehr sagen, das wussten wir nicht. Sie wussten es. Die Bürger in den fast 200 Staaten dieser Welt wussten es noch nicht alle seit 1992… aber jetzt wissen es immer mehr. Wer heute am öffentlichen Leben teilnimmt und Nachrichten wahrnimmt, weiß, dass die steigenden Treibhausgasemissionen Lebensgrundlagen hier und woanders zerstören. Der weiß, dass je mehr Kohlenstoffdioxid aus der Verbrennung von Öl, Gas und Kohle in die Luft entweicht, umso unbewohnbarer der Planet wird. Warum tun wir nichts dagegen? Oder offener gefragt: Was tun wir?