Völker der Welt – schaut auf Gaza!

Israel darf nicht alleine gelassen werden von seinen Freunden. Dazu gehört konstruktive Kritik und Unterstützung aus Deutschland beim Aufbau der friedlichen Koexistenz zweier Völker.   

Schon wieder wegschauen? 80 Jahre nach Ende der Shoah? In diesen Tagen vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Ein Krieg, den Deutschland begann mit dem Angriff auf seinen Nachbarn Polen. In der Folge griff Nazideutschland auch weitere Länder in Europa an wie Frankreich oder die Niederlande und besetzte sie. Das Naziregime führte nicht nur Krieg gegen Staaten sondern auch gegen Völker, die damals wie heute staatenübergreifend leben. Dieser zweite gleichzeitig stattfindende Krieg richtete sich ausschließlich gegen unbewaffnete Zivilisten. Es war ein Völkermord an dem jüdischen Volk, aber auch an den Sinti und Roma sowie an Polen.

In meinen Gesprächen mit Zeitzeugen aus den Nazijahren und Überlebenden der deutsch-jüdischen Bevölkerung, ist mir eines deutlich geworden: Die jüdischen Zivilisten hatten das Gefühl, absolut ausgeliefert zu sein. Ab einem bestimmten Zeitpunkt schnappte die Falle zu und es gab kein Entrinnen. Sie konnten die Grenzen nicht mehr übertreten und weder Deutschland noch die von den Deutschen besetzten Gebiete verlassen. Auch innerhalb der Grenzen konnten sie sich nicht schützen. Manche versuchten sich zu verstecken. Aber viele wurden entdeckt. Es ist diese komplette Aussichtslosigkeit der damaligen Lage der Juden, die sich mir als Vergleich heute mit der Situation der Palästinenser im Gazastreifen aufdrängt: Flucht ausgeschlossen.

Felsendom und Klagemauer

Palästina und Israel

Selbstverständlich sind die Ereignisse, die zu diesen beiden Zuständen geführt haben und jeweils zeitlich davor liegen, nicht vergleichbar. Das so genannte Dritte Reich ist vor mehr als 80 Jahren der Kriegstreiber und will das jüdische Volk vernichten. Israel greift nach dem schlimmsten Pogrom seit der Shoah im Oktober 2023 an jüdischen Menschen, die dafür verantwortliche Terrororganisation Hamas im Gazastreifen an, um diese zu vernichten. Seit dem Einsatz gegen die Hamas sind über 50.000 Menschen im Gazastreifen gestorben. Davon überwiegend Kinder, Frauen, Alte und damit unbewaffnete Zivilisten. Die israelische Führung nimmt diese Opfer in Kauf: Das gilt für palästinensische wie für die jüdischen Geiseln gleichermaßen.

Damals wie heute leben Unschuldige in einem „offenen“ Gefängnis: Es ist kein geschlossenes Gebäude, sondern im Grunde ihre Heimat. Sie können das umkämpfte Gebiet aber nicht verlassen, wie es unter normalen Umständen möglich wäre. Wie es etwa die Gründe für die vielen Flüchtlingsströme in diesem und dem letzten Jahrhundert waren. Im Gazastreifen gibt es auch kein Versteck. Weder im Krankenhaus, der Schule, der Moschee, auch nicht in der Flüchtlingsunterkunft, am Meer, oder in den Olivenhainen, nicht in den Trümmern, oder gut erkennbar auf offener Straße und selbst nicht im deutlich als solchen gekennzeichneten Rettungswagen sind die Menschen sicher. Der Himmel über Gaza ist ihre Hölle. Die Frauen, Kinder, Alte und Junge können überall und jederzeit von den Bomben der israelischen Armee getötet werden. Eine völlig aussichtslose Lage für die Menschen im Gazastreifen.

Wie reagiert die freie Welt? Was macht Deutschland?

Vor wenigen Tagen startete die Anhörung am Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag über die Verpflichtung Israels, humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu lassen. Israel hat seit Anfang März diesen Jahres eine komplette Blockade über den Gazastreifen verhängt und damit sämtliche Hilfslieferungen gestoppt. Die israelische Regierung weigert sich, mit dem UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten, kurz UNRWA, im Gazastreifen zusammenzuarbeiten und beschuldigt diese UN-Agentur von Mitgliedern der Terrororganisation Hamas infiltriert zu sein. Das Urteil des UN-Gerichts kann noch Monate dauern. Es könnte Israel dazu verpflichten, die Hilfslieferungen wieder herein zu lassen.

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, der UN, António Guterres ist seit den Ereignissen vom Oktober 2023 bemüht, vor einer Eskalation und damit weiteren Toten auf beiden Seiten zu warnen. Vor dem Einmarsch der israelischen Armee im November 2023 forderte er, dass das humanitäre Völkerrecht im Gazastreifen gewahrt werden muss. Israel dürfe die Palästinenser nicht kollektiv als Volk bestrafen. Israel reagierte damals scharf auf diese Kritik und warf Guterres vor, den Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu verharmlosen und forderte seinen Rücktritt. Im Oktober 2024 erklärte ihn die israelische Regierung zur unerwünschten Person. Er sei voreingenommen und hätte sich einseitig auf die Seite von Israels Gegner geschlagen. So wurde dem Chef der UN die Einreise in den Gazastreifen verweigert, als er vor dem geschlossenem Grenzübertritt stand und sich selbst ein Bild machen wollte.

Die Vereinten Nationen, UN

Der UN-Generalsekretär hat per Amt alle Völker im Blick. Er hat den Hamas-Terror auf die Israelis genauso verurteilt wie die Tötung von Zivilisten durch israelische Raketen. Ihn als voreigenommen zu bezeichnen, zeigt Israels Missverständnis für die Rolle der Vereinten Nationen. Die UN wurden im Herbst 1945 nach Ende der größten Menschheitskatastrophe der Geschichte gegründet. Ihre Aufgabe basiert unter anderem darauf, die Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte zu garantieren. Die UN, ihre Gremien und Agenturen, dienen daher allen Völkern der Welt. So gelten auch die Menschenrechte überall, zu jeder Zeit und für alle.  Sie gelten auch für die wenigen Völker, die gar nicht offiziell in der UN vertreten sind, wie die Palästinenser. Israels Devise „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ ist mit dem Statuten der Vereinten Nationen unvereinbar.

Deutschland steckt diplomatisch in der Zwickmühle. Einerseits ermahnte die Bundesregierung mehrfach die israelische Regierung, die Regeln des humanitären Völkerrechts im Gazastreifen einzuhalten zuletzt Ende April mit einer gemeinsamen Erklärung der Außenministerin Annalena Baerbock mit ihren Amtskollegen aus Frankreich und England. Israel müsse die Blockade aufheben. Die Verquickung von humanitärer Hilfe mit dem Kampf gegen eine Terroreinheit sei nicht hinnehmbar. Andererseits betonte Annalena Baerbock immer wieder das Selbstverteidigungsrecht Israels. Im September 2024 bei einer Abstimmung in der UN-Vollversammlung, die den Rückzug Israels aus den besetzten Palästinensergebieten forderte, enthielt sich Deutschland. Als der Internationale Strafgerichtshof, IStGH, im Gegensatz zum Internationalen Gerichtshof kein UN-Organ, im November 2024 einen Haftbefehl gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Joaw Galant beantragt, liest sich die Stellungnahme der Bundesregierung wie ein unklares Jonglieren. Man unterstütze den IStGH, gleichzeitig seien die Beziehung zu Israel aufgrund der deutschen Geschichte einzigartig.

Deutschlands Dilemma

Diese Haltung ist wie eine Drehung um die eigene deutsche Achse, aber keine Bewegung in die eine oder andere Richtung, die ein klares Signal senden würde. Für Verwirrung sorgt auch der viel zitierte Satz, die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson. Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel prägte diesen Satz in ihrer Rede 2008 vor dem israelischen Parlament. Frau Baerbock hat auf Nachfragen immer wieder betont, dass dies nicht bedeute, dass man die Politik der jetzigen israelischen Regierung bedingungslos unterstütze. Nach Aussagen der Bundesregierung leitet sich diese Staatsräson aus der besonderen Verantwortung Deutschlands für Israels Existenzrecht ab. Die Grundlage dafür ist der von Nazi-Deutschland verübte Völkermord an den Juden, der erst heute vor 80 Jahren zu Ende ging.

Aber wie könnte Verantwortung für den jüdischen Staat noch aussehen? Israel ist nicht geholfen, wenn Verbündete sich nicht trauen, Kritik zu äußern. Gerade von denen, deren Unterstützung sicher ist, sollte es klare Worte geben, vor und hinter den Kulissen. Deutschland liefert Waffen an Israel. Wenn diese völkerrechtswidrig eingesetzt werden, wenn damit sogar Kriegsverbrechen verübt werden, dann ist aber mehr als nur freundschaftliche Einmischung gefragt. Dann gebietet es die Verantwortung Deutschlands für den Einsatz seiner gelieferten Waffen, Israel kritische Fragen zu stellen und je nach Antwort, auch weitere Lieferungen zurückzuhalten.

Demokratie braucht Kritik

Es fehlt in Deutschland eine öffentlich geführte Debatte über die Politik der israelischen Regierung. Diese Debatte wird aus unterschiedlichen Gründen nicht geführt. Das liegt nicht daran, dass Israel jede Art von Kritik scharf kontert. Das machen andere Staaten auch. Sondern die Frage steht im Raum, ob man Israel kritisieren darf, wenn man das jüdische Volk an den Rand des Aussterbens brachte. Die Antwort ist, ja selbstverständlich. Kritik hilft Fehler zu finden und sich zu verbessern. Demokratien leben von Kritik – innerhalb der eigenen Gesellschaft und zwischen Staaten. Gerade Kritik unter Verbündeten ist überlebenswichtig. Woran sonst könnten sich Regierungen neben dem Willen der eigenen Bürger orientieren? Es braucht dazu die Debatten in der UN, in der EU und zwischen nationalen Regierungen. Orientierung geben die Urteile der internationalen Gerichte. Sie anzuerkennen ist Lebenselixier für alle Demokratien dieser Welt. Würden wir es heute nicht tun, auf wen könnten wir uns berufen, wenn unsere eigene Freiheit und Rechte wieder bedroht werden?

Die ausbleibende oder zu schwache öffentliche Debatte an dem Vorgehen Israels im Gazastreifen sendet auch ein völlig falsches Signal in die israelische Gesellschaft. Kritische Stimmen in dem Land erhalten so keine Unterstützung von außen. Dabei sind solche Signale an Minderheiten, politische oder ethnische, in einer Demokratie für die Meinungsbildung und -äußerung immens wichtig. Im April 2025, zwischen den israelischen Feiertagen des Gedenkens an die Opfer der Kriege und der Shoa, haben sich 350 Schriftsteller in einem offenen Brief gegen den Krieg im Gazastreifen geäußert. Auch Angehörige der noch wenigen lebenden Geiseln kritisieren die Haltung ihrer Regierung immer wieder. Diese Stimmen sind der Kern der Demokratie in Israel.

Friedliche Koexistenz der Völker

Richtig ist, was beiden Völkern das Überleben sichert.

Es wäre eine völlig falsch verstandene Unterstützung Israels, wenn der jüngst vereidigte Kanzler Friedrich Merz den israelischen Regierungschef Netanjahu in Deutschland empfangen würde. Damit würden die israelische Regierung und alle ihre Maßnahmen, die diese in den letzten Jahren zu verantworten hat, legitimiert. Es wäre auch ein Bruch mit den Regeln des Internationalen Strafgerichtshof, da Netanjahu verhaftet werden müsse. Es steht viel auf dem Spiel. Israel könnte sich die eigene Zukunft auf Generationen verbauen, weil die Menschen in Palästina und in Israel von Rache und Hass geleitet sind. Deutschland wiederum büßt in vielen unbeteiligten Ländern und in den UN seine Glaubwürdigkeit ein. Sollten deutsche Politiker künftig andere Staaten an die Einhaltung von Menschenrechten oder Rechtsstaatlichkeit erinnern, wäre der Vorwurf naheliegend, es werde mit zweierlei Maß gemessen.

Auch die deutsche Öffentlichkeit muss sich fragen, welche Meinungsäußerung erlaubt ist und welche nicht. Es scheint nach demokratischen Spielregeln nicht glaubhaft, wenn die Bundesregierung öffentliche Proteste an dem Vorgehen Israels schnell unter den Verdacht des Antisemitismus stellt. Hier muss klar differenziert werden. Eine Kritik an der israelischen Regierung, die gleichzeitig das Existenzrecht Israels anerkennt und die allgemeinen Menschenrechte für Juden und Palästinenser einfordert, ist nicht Antisemitismus. Im Gegenteil: Kritik ist notwendig, um Antisemitismus vorzubeugen.

Völker der Welt = Gaza

„Völker der Welt!“, rief der Bürgermeister von Westberlin, Ernst Reuter, im September 1948 den Regierungen in aller Welt zu. „Schaut auf diese Stadt!“ und damit meinte er, dass die freien Staaten dieses Stück eingeschlossene Stadt nicht aufgeben dürfen. Denn die russischen Besatzer hatten im Juni desselben Jahres alle Zufahrtswege zu und von Westberlin abgeriegelt. Daraufhin hatten die Alliierten die legendäre Berliner Luftbrücke gestartet, die zum Zeitpunkt der Rede bereits Monate anhielt. Über ein Jahr lang versorgten die ehemaligen Feinde, die USA, Frankreich und England, die Westberliner mit den lebensnotwendigen Gütern. Die Botschaft war klar: Wir geben die Eingeschlossen nicht preis.

Darum geht es jetzt auch. Die israelische Regierung muss sofort die Hilfslieferungen nach Gaza wieder hereinlassen. Die neue Bundesregierung muss internationale Organisationen in unserem eigenen Interesse unterstützen und die Sicherung der humanitären Versorgung der Menschen in Gaza einfordern, auch gegen die Kritik Israels. Das wäre das richtige Zeichen der Versöhnung zum 8. Mai 2025. Die Unterstützung Israels und der notleidenden Zivilbevölkerung im Gazastreifen, das ist ein und das gleiche: das Menschliche.

Antisemitismus ist nicht das Kernproblem der Juden

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Das deutsche Novemberpogrom jährt sich zum 80. Mal. Daraus leitet sich die entscheidende Frage ab, die sich seit rund 200 Jahren immer wieder stellt: Wie bekämpft man Antisemitismus? Antworten gaben jetzt Experten aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft auf der Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft e.V. „Den Opfern verpflichtet – Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart“

In der Nacht vom 9. auf den 10. November brannten rund 1400 im Deutschen Reich (Deutschland, Österreich) befindliche Synagogen, wurden geplündert oder geschändet. Mehrere hundert Juden wurden in der Nacht ermordet oder starben in den kommenden Wochen und Monaten an den Folgen ihrer Misshandlung oder Verschleppung in die frühen Arbeits- und Konzentrationslager. Viele zigtausend Geschäfte jüdischer Besitzer wurden ebenfalls zerstört und geplündert. Augenzeugen dieser Nacht beschrieben wie Gestapo- und SA-Männer und andere, die sich ihnen anschlossen, mit Eisenstangen die Schaufenster der Geschäfte einschlugen. Es waren so viele, in manchen Städten jedes fünfte Geschäft, dass das Zerborsten von Glas und das Klirren der Bruchstücke, wenn sie auf den Boden aufschlugen, wie ein helles Munitionsfeuer in den Straßen und Gassen der Städte und Dörfer widerhallte. Ein Menetekel.

Die Wissenschaft ist sich heute einig, dass dieser Tag oder vielmehr diese Nacht einen Wendepunkt markiert. „Die erste große physische Attacke gegen Juden in Deutschland“ in der Nazizeit sei das gewesen, begleitet von einem starken Wegducken, Wegschauen der Bevölkerung, resümiert die Historikerin Dr. Cornelia Wilhelm von der Münchner Ludwigs-Maximilians-Universität. Danach setzte eine Massenflucht der Juden aus Deutschland ein. Der aktuelle Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer, interpretiert das Pogrom aus heutiger Sicht. „Es war der finale Test der Nazis, wie weit sie gegenüber den Juden gehen können“, ohne dass die Gesellschaft protestiert. Das hat sie nicht. Daher fiel der Test „für die Nazis befriedigend aus“. Sie wussten nun, sie konnten weitermachen und mehr noch, sie konnte noch viel weitergehen.

Was heute noch überrascht ist der geringe Widerstand aus der Bevölkerung, wie es Dr. Bernd Faulenbach, der Vorsitzende des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. formuliert. „Aber das, was an Widerstand da war, das möchten wir heute stärker benennen“.

Die Helden von damals können uns den Weg weisen

Genau diese Strategie verfolgt auch die Bundesregierung. Für sie sprach der seit April benannte Beauftragte für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein. „Wir müssen uns dafür wappnen, wenn es nötig ist, Zivilcourage zu zeigen.“ Den Weg dahin „weisen uns heute die mutigen Handlungen Einzelner“. Viel zu lange galten die Widerstandskämpfer in unserem Land noch als Vaterlandsverräter, doch „es ist endlich an der Zeit, diesen Personen ihren gebührenden Platz zuzuweisen.“ Sie können uns heute Vorbild sein, schlägt Dr. Klein vor.

Ein Vorbild, heute würde man Held sagen, in dieser Pogromnacht war der damalige Leiter des 16. Polizeireviers in Berlin-Mitte, Wilhelm Krützfeld. Der damals 53-jährige Polizeioberleutnant stellte sich mit seinen Leuten den Brand legenden SA-Truppen entgegen. So konnten die Polizeibeamten die Zerstörung der Neuen Synagoge in der Oranienburgerstraße in Berlin verhindern. Sie ist heute als Synagoge mit ihrer golden verzierten Kuppel wieder ein Wahrzeichen für die Gegenwart jüdischen Lebens in Deutschland. „Andere Polizisten aus diesem Revier wie Willi Steuck und Otto Bellgardt halfen Juden in der NS-Zeit mit falschen Pässen und warnten sie vor Razzien“, betont Dr. Klein.

An Vorbildern lernen wie man Zivilcourage zeigt, das sei eine der Antworten auf den Antisemitismus unserer Zeit. Das dieser immer stärker wird, ist für alle Experten deutlich. Laut Kriminalstatistik wurden im letzten Jahr 1.500 antisemitische Straftaten begangen. Das ist ein Anstieg um 2,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die überwiegende Mehrzahl der Taten sind rechtsmotiviert (94 Prozent). Felix Klein sagt, dass allein seit den wenigen Monaten seines Amtsantritts im Arpil die Hemmschwelle für Hasskommentare in Briefen und Blogs immer weiter gesunken sei. Als schlimme Vorzeichen nannte er auch die Demonstrationen in Chemnitz und in Dortmund in den vergangenen Wochen, wo Rechtsradikale auf offener Straße den Hitlergruß gezeigt hätten. Auch in Schulen würde das Wort Jude wieder häufig als Schimpfwort verwendet.

Einige der Redner sprachen sich daher für eine bessere Lehrerausbildung aus. Antisemitismus müsse schon in den Schulen bekämpft werden. Ja, sagten in der anschließenden Diskussion einige aus dem Publikum, aber wie? Denn die Lehrer seien heute schon an der Grenze ihrer Belastung und man könne ihnen nicht für alles in der Gesellschaft die Verantwortung aufbürden.

Die Flüchtlinge müssen sich unsere Geschichte aneignen.

Dafür sind die Immigranten nach Ansicht von Dr. Klein stärker in die Pflicht zu nehmen. Gerade für die Menschen, die als Flüchtlinge oftmals aus muslimisch geprägten Ländern zu uns gekommen sind, gelte, dass sie sich die Vergangenheit dieses Landes aneignen müssen. „Sie müssen die deutsche Geschichte kennen und die Lehren, die wir daraus gezogen haben.“ Die Lehren seien die uneingeschränkte Ablehnung von Rassismus und Antisemitismus. Den Respekt vor diesen Werten „sollten wir aktiv von den Flüchtlingen einfordern“, findet Dr. Klein.

Abraham Lehrer vom Zentralrat der Juden ergänzte, er sei überzeugt davon, dass wenn es heute gegen Moslems geht, dann gehe es morgen wieder gegen die Juden. Nach dieser Aussage sitzen wir alle in einem Boot, egal ob Juden, Muslime, Christen oder Konfessionslose. Wir verlieren alle das gleiche, wenn Gruppen von Menschen angefeindet oder verfolgt werden. Auch wer zuerst selbst andere anfeindet, wird bald selbst ein Verfolgter sein. Auch der Journalist Dr. Jacques Schuster von der Zeitung die Welt unterstrich, dass Antisemitismus nicht das Kernproblem der Juden sei, sondern Ausdruck eines gesamtdemokratischen Problems. Zu dem heutigen Judenhass geselle sich noch ein Hass auf das Parlament oder ein Hass auf Europa wie er von vielen Leserbriefen an der Redaktion berichten kann. Die prägnanteste Zusammenfassung lieferte schließlich wieder Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung: „Den Zustand der Gesellschaft kann man daran ablesen, wie es der jüdischen Gemeinschaft geht.“

Wie geht es der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, wendet sich die Moderation Andrea Thilo daraufhin an Abraham Lehrer vom Zentral der Juden, der prompt antwortet: „Nicht gut.“