Antisemitismus ist nicht das Kernproblem der Juden

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Das deutsche Novemberpogrom jährt sich zum 80. Mal. Daraus leitet sich die entscheidende Frage ab, die sich seit rund 200 Jahren immer wieder stellt: Wie bekämpft man Antisemitismus? Antworten gaben jetzt Experten aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft auf der Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft e.V. „Den Opfern verpflichtet – Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart“

In der Nacht vom 9. auf den 10. November brannten rund 1400 im Deutschen Reich (Deutschland, Österreich) befindliche Synagogen, wurden geplündert oder geschändet. Mehrere hundert Juden wurden in der Nacht ermordet oder starben in den kommenden Wochen und Monaten an den Folgen ihrer Misshandlung oder Verschleppung in die frühen Arbeits- und Konzentrationslager. Viele zigtausend Geschäfte jüdischer Besitzer wurden ebenfalls zerstört und geplündert. Augenzeugen dieser Nacht beschrieben wie Gestapo- und SA-Männer und andere, die sich ihnen anschlossen, mit Eisenstangen die Schaufenster der Geschäfte einschlugen. Es waren so viele, in manchen Städten jedes fünfte Geschäft, dass das Zerborsten von Glas und das Klirren der Bruchstücke, wenn sie auf den Boden aufschlugen, wie ein helles Munitionsfeuer in den Straßen und Gassen der Städte und Dörfer widerhallte. Ein Menetekel.

Die Wissenschaft ist sich heute einig, dass dieser Tag oder vielmehr diese Nacht einen Wendepunkt markiert. „Die erste große physische Attacke gegen Juden in Deutschland“ in der Nazizeit sei das gewesen, begleitet von einem starken Wegducken, Wegschauen der Bevölkerung, resümiert die Historikerin Dr. Cornelia Wilhelm von der Münchner Ludwigs-Maximilians-Universität. Danach setzte eine Massenflucht der Juden aus Deutschland ein. Der aktuelle Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer, interpretiert das Pogrom aus heutiger Sicht. „Es war der finale Test der Nazis, wie weit sie gegenüber den Juden gehen können“, ohne dass die Gesellschaft protestiert. Das hat sie nicht. Daher fiel der Test „für die Nazis befriedigend aus“. Sie wussten nun, sie konnten weitermachen und mehr noch, sie konnte noch viel weitergehen.

Was heute noch überrascht ist der geringe Widerstand aus der Bevölkerung, wie es Dr. Bernd Faulenbach, der Vorsitzende des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. formuliert. „Aber das, was an Widerstand da war, das möchten wir heute stärker benennen“.

Die Helden von damals können uns den Weg weisen

Genau diese Strategie verfolgt auch die Bundesregierung. Für sie sprach der seit April benannte Beauftragte für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein. „Wir müssen uns dafür wappnen, wenn es nötig ist, Zivilcourage zu zeigen.“ Den Weg dahin „weisen uns heute die mutigen Handlungen Einzelner“. Viel zu lange galten die Widerstandskämpfer in unserem Land noch als Vaterlandsverräter, doch „es ist endlich an der Zeit, diesen Personen ihren gebührenden Platz zuzuweisen.“ Sie können uns heute Vorbild sein, schlägt Dr. Klein vor.

Ein Vorbild, heute würde man Held sagen, in dieser Pogromnacht war der damalige Leiter des 16. Polizeireviers in Berlin-Mitte, Wilhelm Krützfeld. Der damals 53-jährige Polizeioberleutnant stellte sich mit seinen Leuten den Brand legenden SA-Truppen entgegen. So konnten die Polizeibeamten die Zerstörung der Neuen Synagoge in der Oranienburgerstraße in Berlin verhindern. Sie ist heute als Synagoge mit ihrer golden verzierten Kuppel wieder ein Wahrzeichen für die Gegenwart jüdischen Lebens in Deutschland. „Andere Polizisten aus diesem Revier wie Willi Steuck und Otto Bellgardt halfen Juden in der NS-Zeit mit falschen Pässen und warnten sie vor Razzien“, betont Dr. Klein.

An Vorbildern lernen wie man Zivilcourage zeigt, das sei eine der Antworten auf den Antisemitismus unserer Zeit. Das dieser immer stärker wird, ist für alle Experten deutlich. Laut Kriminalstatistik wurden im letzten Jahr 1.500 antisemitische Straftaten begangen. Das ist ein Anstieg um 2,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die überwiegende Mehrzahl der Taten sind rechtsmotiviert (94 Prozent). Felix Klein sagt, dass allein seit den wenigen Monaten seines Amtsantritts im Arpil die Hemmschwelle für Hasskommentare in Briefen und Blogs immer weiter gesunken sei. Als schlimme Vorzeichen nannte er auch die Demonstrationen in Chemnitz und in Dortmund in den vergangenen Wochen, wo Rechtsradikale auf offener Straße den Hitlergruß gezeigt hätten. Auch in Schulen würde das Wort Jude wieder häufig als Schimpfwort verwendet.

Einige der Redner sprachen sich daher für eine bessere Lehrerausbildung aus. Antisemitismus müsse schon in den Schulen bekämpft werden. Ja, sagten in der anschließenden Diskussion einige aus dem Publikum, aber wie? Denn die Lehrer seien heute schon an der Grenze ihrer Belastung und man könne ihnen nicht für alles in der Gesellschaft die Verantwortung aufbürden.

Die Flüchtlinge müssen sich unsere Geschichte aneignen.

Dafür sind die Immigranten nach Ansicht von Dr. Klein stärker in die Pflicht zu nehmen. Gerade für die Menschen, die als Flüchtlinge oftmals aus muslimisch geprägten Ländern zu uns gekommen sind, gelte, dass sie sich die Vergangenheit dieses Landes aneignen müssen. „Sie müssen die deutsche Geschichte kennen und die Lehren, die wir daraus gezogen haben.“ Die Lehren seien die uneingeschränkte Ablehnung von Rassismus und Antisemitismus. Den Respekt vor diesen Werten „sollten wir aktiv von den Flüchtlingen einfordern“, findet Dr. Klein.

Abraham Lehrer vom Zentralrat der Juden ergänzte, er sei überzeugt davon, dass wenn es heute gegen Moslems geht, dann gehe es morgen wieder gegen die Juden. Nach dieser Aussage sitzen wir alle in einem Boot, egal ob Juden, Muslime, Christen oder Konfessionslose. Wir verlieren alle das gleiche, wenn Gruppen von Menschen angefeindet oder verfolgt werden. Auch wer zuerst selbst andere anfeindet, wird bald selbst ein Verfolgter sein. Auch der Journalist Dr. Jacques Schuster von der Zeitung die Welt unterstrich, dass Antisemitismus nicht das Kernproblem der Juden sei, sondern Ausdruck eines gesamtdemokratischen Problems. Zu dem heutigen Judenhass geselle sich noch ein Hass auf das Parlament oder ein Hass auf Europa wie er von vielen Leserbriefen an der Redaktion berichten kann. Die prägnanteste Zusammenfassung lieferte schließlich wieder Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung: „Den Zustand der Gesellschaft kann man daran ablesen, wie es der jüdischen Gemeinschaft geht.“

Wie geht es der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, wendet sich die Moderation Andrea Thilo daraufhin an Abraham Lehrer vom Zentral der Juden, der prompt antwortet: „Nicht gut.“